| | |

„2,5-mal höher“ – und trotzdem nicht bewiesen: Wie eine wacklige Datenlage zur nächsten Vaping-Panik wird

Ich kenne dieses Muster inzwischen auswendig. Irgendwo erscheint eine neue „Studie“, irgendwo steht eine große Zahl – und plötzlich klingt es so, als wäre die Sache endgültig entschieden: Dampfen macht Herzinfarkt. Der Tenor ist immer ähnlich, die Schlagzeilen fast austauschbar. Und jedes Mal bleibt bei vielen Umsteigern genau ein Gefühl hängen: Unsicherheit. Oder schlimmer: Resignation – „dann ist ja eh alles gleich“.

Ich habe mir die zugrunde liegende Arbeit komplett angesehen. Es handelt sich um ein systematisches Review mit Meta-Analyse in BMC Public Health (2025, „accepted manuscript / article in press“). Und ja: Die Studie ist relevant. Aber nein: Sie ist kein Beweis dafür, dass E-Zigaretten Herzinfarkte verursachen.


Was diese Studie wirklich gemacht hat – und warum das wichtig ist

Eine Meta-Analyse klingt nach „groß“ und „endgültig“. In Wirklichkeit ist sie erstmal nur ein Rechenverfahren: Man nimmt vorhandene Studien, bewertet sie, und versucht daraus ein Gesamtbild zu bauen. Das kann stark sein – wenn die Einzelstudien stark sind.

Hier liegt das Problem: In dieser Meta-Analyse wurden 12 Studien ausgewertet. Und davon sind 11 Querschnittsstudien. Querschnitt bedeutet: Man fragt Menschen zu einem Zeitpunkt, ob sie dampfen – und ob sie irgendwann in ihrem Leben einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hatten. Das ist keine Zeitreise. Das zeigt keine Reihenfolge. Du weißt nicht sauber: Kam das Dampfen vorher? Kam der Herzinfarkt vorher? Oder ist beides über andere Faktoren verbunden?

Dazu kommt: Die Daten stammen fast vollständig aus den USA (plus eine Studie aus Japan). Wer also irgendwo liest „Studie aus Indien“, muss verstehen: Die Autor:innen sitzen zwar in Indien – aber die untersuchten Datensätze sind nicht „indische Patientendaten“.


Was als Ergebnis herauskommt (und welche Zahl die Medien lieben)

Beim Thema Herzinfarkt (MI) findet die Meta-Analyse insgesamt eine statistische Assoziation: Im Gesamtergebnis liegt die sogenannte Odds Ratio bei 1,53. Das klingt nach „deutlich“, wird dann schnell als „Risiko erhöht“ übersetzt – und landet in Schlagzeilen.

Noch lauter wird es bei einer Untergruppe: Menschen, die früher geraucht haben und aktuell dampfen. Dort liegt die Odds Ratio bei 2,52. Und genau daraus wird dann „2,5-mal höheres Herzinfarkt-Risiko“.

Beim Thema Schlaganfall (Stroke) ist das Bild weniger dramatisch, aber genau das geht oft unter: Das Gesamtergebnis ist nicht statistisch signifikant (OR 1,05). Trotzdem findet sich in der Untergruppe „Ex-Raucher, die jetzt dampfen“ eine höhere Odds Ratio (OR 1,73) – und das wird dann medial gerne groß gespielt, während das nicht-signifikante Gesamtergebnis klein bleibt.

Und jetzt kommt der Teil, der in vielen Artikeln zu kurz kommt: Bei den „exklusiven“ E-Zigaretten-Nutzern (also ohne Rauchhistorie) ist in dieser Meta-Analyse nichts signifikant erhöht – weder bei Herzinfarkt (OR 0,96) noch bei Schlaganfall (OR 0,97). Die Unsicherheit ist dabei zwar groß (breite Konfidenzintervalle), aber es passt eben nicht zur Panik-Erzählung.


Was die Studie damit belegt – und was sie nicht belegen kann

Die Studie belegt, dass es in den ausgewerteten Daten eine statistische Assoziation gibt – vor allem bei Herzinfarkt. Punkt.

Sie kann aber nicht belegen, dass Dampfen die Ursache ist. Das ist kein kleiner Unterschied, das ist der Kern. Denn mit überwiegend querschnittlichen Daten kannst du Ursache und Wirkung nicht sauber trennen. Und genau das wird in der Studie selbst als große Limitation benannt.

Wenn Medien daraus formulieren „E-Zigaretten erhöhen das Herzinfarkt-Risiko“, dann klingt das wie Kausalität. Die Datenbasis liefert aber nur: „tritt gemeinsam auf“ – und selbst das unter Bedingungen, die extrem anfällig für Verzerrungen sind.


Der Elefant im Raum: der Raucher-Rucksack

Warum sieht es ausgerechnet bei Ex-Rauchern so heftig aus?

Ganz simpel: Ex-Raucher sind keine „neutralen“ Menschen. Wer viele Jahre geraucht hat, trägt einen Rucksack aus Vorschäden mit sich herum – Gefäßveränderungen, Entzündungsprozesse, Plaques, Blutdruckthemen, Stoffwechselprobleme, plus alles, was mit Lebensstil und Stress zusammenhängt. Das verschwindet nicht automatisch, nur weil jemand jetzt statt Zigarette eine E-Zig nutzt.

Und dann gibt es noch etwas, das in solchen Datensätzen immer wieder unterschätzt wird: Rest-Confounding durch Rauchen. Viele Studien erfassen Rauchen nicht perfekt. Manche Menschen geben es ungenau an. Manche sind Dual-User. Manche „rutschen“ wieder rein. Manche rauchen „nur ab und zu“. Und genau solche Details entscheiden beim Herzrisiko massiv. Die Studie schreibt selbst, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass aktuelles oder früheres Rauchen unvollständig erfasst wurde.

Noch ein Punkt, der oft komplett fehlt: Reverse Causality. Menschen steigen häufig wegen gesundheitlicher Probleme um. Wenn jemand einen Herzinfarkt hatte und danach sagt „Ich muss weg vom Tabak“ und auf E-Zigarette wechselt, taucht er später in Umfragen als „Dampfer mit Herzinfarkt-Historie“ auf. In einem Querschnittsdesign sieht das dann so aus, als wäre das Dampfen beteiligt – obwohl es in der realen Reihenfolge sogar danach kam.


Die Medien-Maschine: Wie aus „Odds“ plötzlich „Risiko“ wird

Ein weiteres Detail: Die Studie arbeitet mit Odds Ratios. Das ist statistisch sauber – aber im Alltag wird daraus fast immer „Risiko“. Das klingt eindeutiger, ist klickbarer, macht mehr Druck.

Was dabei fast nie erklärt wird: Odds Ratio ist nicht automatisch „du hast 2,5-mal so viel Risiko“. Vor allem sagt es nichts darüber, wie groß das Risiko absolut ist. Eine große relative Zahl kann am Ende trotzdem ein seltenes Ereignis bleiben. Diese Einordnung fehlt fast immer – weil sie die Schlagzeile entschärft.

Und genau so entsteht aus einer vorsichtigen Beobachtung ein medialer Satz, der sich liest wie ein Urteil.


Was man fairerweise trotzdem sagen muss

Kritik an Medien heißt nicht, dass man alles wegwischt. Natürlich ist es plausibel, dass Dampfen nicht komplett „neutral“ ist – schon allein, weil Nikotin und Inhalationsaerosole physiologisch etwas auslösen können. Die Studie diskutiert Mechanismen, die man zumindest als biologisch plausibel betrachten kann.

Aber: Plausibilität ersetzt keinen Beweis. Und diese Arbeit liefert eben keinen „Dampfen verursacht Herzinfarkt“-Beweis. Sie liefert ein Signal, das in einer ganz bestimmten Population (Ex-Raucher) besonders stark ist – also genau dort, wo der Raucher-Rucksack statistisch am meisten verzerrt.


Mein Fazit für Steamshots-Leser: Weniger Panik, mehr saubere Fragen

Wenn du diese Meta-Analyse ernst nimmst, dann lautet die ehrliche Schlussfolgerung nicht „Dampfen ist genauso schlimm“. Sie lautet:

Wir sehen in Beobachtungsdaten eine Assoziation – vor allem bei Ex-Rauchern. Aber wir können nicht sauber sagen, ob Dampfen die Ursache ist, weil die Designs zu schwach sind, Rauchen als Störfaktor nicht zuverlässig „wegzurechnen“ ist, und die zeitliche Reihenfolge häufig unklar bleibt.

Und genau deshalb ist es so unerquicklich, wenn Medien wieder den simplen Satz daraus machen: „E-Zigaretten erhöhen das Herzinfarkt-Risiko.“ Das ist nicht Aufklärung. Das ist eine Erzählung – und sie hat Nebenwirkungen.

Denn die gefährlichste Nebenwirkung ist nicht, dass jemand kritisch wird. Die gefährlichste Nebenwirkung ist, dass Menschen, die vom Tabak weg wollten, denken: „Dann ist es eh egal.“ Und zurückgehen.

Wenn wir das Thema wirklich seriös klären wollen, brauchen wir nicht die nächste Headline – wir brauchen gute Langzeitdaten: klare Trennung von Nie-Rauchern, Ex-Rauchern, Dual-Use, Packyears, Zeit seit Rauchstopp und echte Verlaufsmessungen. Erst dann kann man über Ursache sprechen. Alles andere ist vor allem eins: ein sehr lauter Nebel.

Thomas Frohnert aka Steamshots ist leidenschaftlicher Dampfer, Technik-Enthusiast und Betreiber von steamshots.de. Seit über zehn Jahren setzt er sich intensiv mit dem Thema Dampfen und Harm Reduction auseinander. Auf seinem Blog teilt er fundierte Einblicke, ehrliche Reviews und praxisnahe Tipps rund um Aromen, Hardware und aktuelle Entwicklungen der Branche. Sein Ziel: Aufklärung ohne Hype – sachlich, verständlich und mit einem persönlichen Touch.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert